Gegen Bilderstürme und für aktives Erinnern
Der Antrag der „Fraktion“ ist vor dem Hintergrund, der in einer Demokratie nie abschließbare Prozess der Bewertung und Neubewertung historischer Figuren der Geschichte und Erinnerungskultur, ein legitimer Debattenbeitrag. Er steht aber leider symptomatisch für die stark einseitige und kontextfreie Sichtweise mancher Debattenteilnehmer.
Ein Symptom dieser Sichtweise ist beispielsweise das alleinige Aufführen von – richtigerweise – kritisch zu sehenden Lebensabschnitten der problematisierten Personen. Dabei fehlen meist die Ausführungen über die auch für die heutige Demokratie wichtigen Verdienste und die Kontextualisierungen manche Entscheidungen. Da der Entwurf der „Fraktion“ die Kritik vorwegnahm, ergänzt der CDU Stadtverband Tübingen einige herausragende Verdienste der Kritisierten und ergänzt den fehelenden Kontext.
Gebhard Müller unterzeichnete als Staatspräsident Württemberg-Hohenzollerns das Grundgesetz mit. Als Ministerpräsident an der Spitze einer All-Parteien-Koalition aus CDU, SPD, FDP/DVP und BHE (1953-58) in Stuttgart und als Präsident des Bundesverfassungsgerichts (1959-71) sorgte er für die Festigung und Akzeptanz der jungen Demokratie in Baden-Württemberg und der Bundesrepublik. Ohne das Einstehen Gebhard Müllers und Kurt Georg Kiesingers (auch gegen Widerstände innerhalb der CDU) für den Südweststaat würde dieser vermutlich nicht existieren.
Kurt Georg Kiesinger, dessen Karriere im NS kontrovers diskutiert wird, wollte als Bundeskanzler an der Spitze der ersten Großen Koalition gemeinsam mit SPD-Vizekanzler Willy Brandt keine Notstandsgesetze um die Demokratie auszuhöhlen, sondern um während einer der Hochphasen des Kalten Krieges auch in Extremsituationen ein Überleben eines handlungsfähigen wie auch in der Situation möglichst demokratischen (Stichwort Notparlament) Staates sicherzustellen. Durch die Rückkehr des Landkrieges und der atomaren Bedrohung in Europa durch Russlands Aggression leider ein Thema, das uns auch heute wieder beschäftigen muss.
Prof. Theodor Eschenburg war maßgeblich daran beteiligt nach den Jahren des Nationalsozialismus die deutsche Politikwissenschaft als Disziplin zu schaffen und zu etablieren. Die Disziplin ist eine mit der Nachkriegsdemokratie untrennbar verwobene und zu deren Förderung bis heute beitragende akademische Disziplin. Sie grenzt sich bewusst zur älteren, teils als obrigkeitshörig in Verruf geratenen, Staatswissenschaft ab.
Gewiss, manche Entscheidungen sind heute nur noch schwer nachzuvollziehen, wie zum Beispiel die Aussetzung des Verfahrens gegen Ludwig Sprauer, des einzigen für die NS-Euthanasiemorde lebenslang Verurteilten, durch den damaligen Ministerpräsident Gebhard Müller. Sie dürfen nicht unerwähnt bleiben, wie im Antrag der „Fraktion“.
Eine Dialektik von Vergehen und Verdienst ist aber Grundvoraussetzung einer Debatte darüber, was letztlich in der demokratischen Erinnerungskultur der Stadt Tübingen schwerer wiegt. Schlichtes „canceln“ führt nicht dazu, ehrenwerten demokratischen Weizen von problematischer Spreu zu trennen, sondern dazu, dass unsere Demokratie keine Geschichte mehr hat. Eine Geschichte die wichtig ist, um Unverständnis und Verdrossenheit zu vermeiden. Ein Bildersturm ist der falsche Weg.
Der CDU-Stadtverband widerspricht daher der Forderung der „Fraktion“. Die CDU Tübingen setzt sich demgegenüber ein für eine kreative und aktive Erinnerungskultur und auch für ein fortwährendes, lebendiges Stadtgespräch, das die Geschichte Tübingens in ihrer ganzen Ambivalenz ernst nimmt, aber auch würdigt. Denn nur wenn man weiß, welche Tradition unsere Demokratie hat, kann sie auch in Zukunft leben. Bilderstürme helfen dabei nicht – das aktive Erinnern hingegen schon.
Info: Der hier behandelte Antrag der „Fraktion“ stellt keine Neuigkeit dar. Er wurde bereits im Gemeinderat behandelt, wo er mehrheitliche Ablehnung fand. Er wurde durch die Satiregruppe „Die Fraktion“ lediglich erneut gestellt.